Apr 16, 2022

Wer kümmert sich? Gender Care Gap & Mental Load

»This is not a problem with you and it’s not a problem with me. It’s a cultural problem. We have to unlearn a lot of things together in order to move forward.«

Gemma Hartley

Nur zu gut erinnere ich mich an den Tag, als in den 80er Jahren eine neue Familie in unser Dorf im Fichtelgebirge zog. Die Frau arbeitete als Land-Ärztin, der Mann war zuhause bei den drei Kindern, übernahm die Organisation des Haushalts, kochte, putzte, kümmerte sich um den großen Garten und brachte seine Töchter zum Ballett- oder Musikunterricht. Am Wochenende backte die Frau dann zusammen mit den Kindern Kuchen, half bei den Hausaufgaben oder malte mit ihnen, um anschließend gemeinsam mit ihrem Mann zu gärtnern. Dabei waren beide Eltern gleichermaßen emotionale Bezugspersonen für die Kinder, mit denen ich noch heute befreundet bin. Das war für viele in der Nachbarschaft ungewöhnlich, fast unheimlich, man mutmaßte, wie unglücklich dieser Vater sein müsste. Ich aber sage, dass diese Familie schon damals ein gutes Beispiel für eine faire Verteilung der Organisation des gemeinsamen Lebens, der Fürsorge-Arbeit und der mentalen Belastung auf beide Partner war.

Was 1980 auf dem Land so ungewöhnlich erschien, hat sich glücklicherweise in Deutschland weiter verstetigt. Wenn ich mich heute in meinem Münchner Freundeskreis umsehe, sehe ich viele Familien, in denen die Väter kochen, Wäsche waschen und die Kleinen morgens in die Kita bringen. Ich kenne einige Männer, die sich bei der Care-Arbeit aktiv engagieren und das auch so wollen – Männer für die nichts schlimmer wäre, als in Sachen Kinder und Haushalt als desinteressiert, ungeschickt oder von der Natur benachteiligt angesehen zu werden.

Dennoch: Laut offiziellen Zahlen der Agentur für Arbeit und des Statistischen Bundesamtes wird rund 80% der Care-Arbeit von Frauen verrichtet. Immer noch. Nur 20% davon übernehmen die Männer. Diese Zahlen belegen eindrucksvoll, dass es offensichtlich nur einer Minderheit gelingt, aus Rollenklischees auszubrechen. Diese Verteilung ist auch einer der Gründe für die sogenannte »Gender Pay Gap«, also die geschlechterbezogene unfaire Bezahlung von Arbeit, die direkt aus der gerade skizzierten »Gender Care Gap« resultiert. Am 01. März 2022 fand der alljährliche »Equal Care Day« statt. Dieses Datum soll darauf aufmerksam machen, dass Fürsorgearbeit in unserer Gesellschaft einen geringen Stellenwert hat und wie wenig sie wertgeschätzt wird. Kümmernde sollten für ihre systemrelevante Arbeit nicht abgestraft werden – in erster Linie finanziell, aber auch ideell. Care-Arbeit ist gleichwertig mit bezahlter Arbeit und sollte genauso behandelt werden.

Kaum vom Job daheim gehts für einen Großteil der Frauen weiter: Essen kochen, aufräumen, Wäsche machen, Buch vorlesen, dem Partner verständnisvoll bei seinen Problemen mit den Kolleg*innen zuhören…

Care-Arbeit ist die unsichtbare und oft unbezahlte Arbeit

Doch worüber sprechen wir eigentlich? Was ist »Care-Arbeit« genau? Mit diesem Begriff wird die »unsichtbare Arbeit« in der Pflege, im Haushalt, bei der Erziehung und auch am Arbeitsplatz beschrieben. Dazu zählen Planungsaufgaben wie das Erinnern an Geburtstage (auch an die der Kollegen im Job-Kontext), das Zusammenstellen der Einkaufsliste, der Überblick über die anstehenden Arzttermine der Familie und die Koordination sämtlicher Fahrten zu Sport- oder Musikstunden oder ins Kindertheater. Letztlich also all die Organisation, die im Hinterkopf immer präsent ist, und die Anspannung bei dem sich kümmernden Elternteil oder der fürsorgenden Person erhöht. Aber auch die Beziehungspflege (»es soll allen gut gehen«) sowie das Auffangen der Bedürfnisse jedes Einzelnen in der Familie oder im Büro müssen dazugerechnet werden.

Was bei Paaren schon zum Thema werden kann, hat bei Familien Potenzial zum handfesten Problem und zeigt sich auch am Arbeitsplatz, beispielsweise beim Koordinieren von Teams. Letztlich ist die Summe der Gesamtaufgaben deutlich höher als es zunächst nach außen aussieht. Denn es steckt viel mehr an Überlegung, Planung, Logistik, Absprachen und Organisation dahinter, als im Ergebnis zu sehen ist. Es gibt klar erkennbare »Projekt-Aufgaben«, aber eben auch die Gesamtverantwortung dahinter – man kann sich das wirklich wie ein Projekt vorstellen. Care-Arbeit steigert unweigerlich den »Mental Load«, also die mentale Belastung. Werden die Aufgaben, die nicht gesehen und geschätzt werden, für eine Person zu viel, tritt ein »Mental Overload« ein. Dieser kann sich mit ähnlichen Symptomen äußern wie ein Burnout und ist eine ernstzunehmende Gesundheitsgefährdung.

Unfairteilung – warum eigentlich?

Die Statistik spricht also eine deutliche Sprache. Meistens sind es immer noch die Frauen, welche die Fürsorge-Arbeit übernehmen – sei es in der Partnerschaft, in der Familie oder am Arbeitsplatz. Auch das »Bundesinnerministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend« hat hierzu Zahlen veröffentlicht. So wenden Frauen pro Tag im Durchschnitt 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf als Männer. Diese »Gender Care Gap« mündet, wie gesagt, direkt in die »Gender Pay Gap«. Frauen arbeiten in Teilzeit, oft zu geringerem Stundenlohn bei gleicher Arbeit, und nehmen finanzielle Nachteile – auch im Hinblick auf die zukünftige Rente – in Kauf. Sie reduzieren ihre Erwerbsarbeit, um die nicht vergütete und wenig gewürdigte Sorgearbeit selbstverständlich zu übernehmen.

Wie bei vielen Mustern, die sich so selbstverständlich konstituieren, spielen auch hier gesellschaftlich tradierte Rollenbilder eine große Rolle. Diese manifestieren sich in der ungleichen Erziehung von Jungen und Mädchen. Viele Mädchen werden von Anfang an zu Care- und Beziehungsarbeit erzogen. Das fängt schon bei den Spielsachen an: Kochtöpfe und Puppen für Mädchen, Fahrzeuge und Waffen für Jungs. Weiter geht es mit geschlechterspezifischen Zuschreibungen an Mädchen in klarer Abgrenzung zu Jungs. Mädchen heißt es, wären »sensibler«, »emotionaler«, «kommunikativer« sowie »multitaskingfähig«. Interessant ist, dass dies auf Basis des Geschlechts passiert und nicht wegen der individuellen Persönlichkeit. Diese sog. »typischen femininen Eigenschaften« legen nahe, dass Frauen geeignet und prädestiniert sind, sich um alles und jeden zu kümmern – unter Aufgabe oder zumindest Zurückstellung der eigenen Bedürfnisse, was früher oder später zur Überlastung führt. Sie sind diejenigen, die immer im Blick haben sollen, wer sich wie fühlt und allen ausgesprochenen und unausgesprochenen Wünschen gerecht werden müssen. Wir erleben die Folge, nämlich, dass es meistens die Mütter sind, die sich zwischen dem bezahlten Teilzeitjob und dem unbezahlten Familien-Job zerreißen – also den Löwinnenanteil an Care-Arbeit leisten. Voilà – fertig ist der Masterplan für Überforderung und Unfairverteilung.

Mental Overload kann vermieden werden! Alle Familienmitglieder unabhängig vom Geschlecht übernehmen Aufgaben im Haushalt, Organisatorisches wird zwischen den Erwachsenen fair aufgeteilt.

Raus aus der Fürsorge-Falle – Do you equally care?

Dabei gibt es einen Ausweg: Die Last der Verantwortung fair (ver-)teilen! Die Sorgearbeit in einer Partnerschaft und in der Familie sollten im Idealfall beide Partner gleichberechtigt auf den Schultern tragen – und zwar auch dann, wenn nicht beide berufstätig sind. Das ist mein Verständnis von Team und Partnerschaft. Durch geteilte Sorgearbeit, lastet die Verantwortung der Planung nicht nur in einem Kopf. Wer fair teilt, erspart seinem geliebten Menschen den »Mental Overload«. Was spricht dagegen, in der eigenen Partnerschaft Konzepte, die für beide stimmig sind, auszuhandeln? Ich kenne viele Männer, die dafür offen sind und Aussagen wie »Er hat da einfach keinen Blick dafür. Ich mach es lieber gleich selbst.« sollten wir Frauen besser lassen. Denn damit zementieren wir das, was wir eigentlich ändern wollen. Letztlich zeigen solche Statements doch nur, wie tief wir selbst in althergebrachten und längst überholten Rollenklischees feststecken. Dazu kommt, dass vielen gar nicht bewusst ist, wie viel oder wie wenig Fürsorgearbeit sie selbst bzw. die Menschen in ihrem Umfeld leisten.

Aber wo anfangen? Wie gelingt es Paaren, einen gemeinsamen Standpunkt zu finden? Indem man über die Verteilung der Care-Arbeit in der Familie nachdenkt, sie reflektiert und sich aufrichtig gemeinsam damit auseinandersetzt, wer wann was in welchem Maße (mehr oder minder gezwungenermaßen) übernommen hat.

Um diese analytische und hochreflektierte Auseinandersetzung zu vereinfachen, laden die Initiatoren des »Equal Care Day« dazu ein, den »Mental Load«-Selbsttest zu machen, den sie entwickelt haben.

► Hier geht’s zum Test


Sorge, Fürsorge, Erschöpfung – Transparenz ist der erste Schritt zur fairen Verteilung

Vielleicht ist der eine oder die andere nach dem »Mental Load«-Test erstaunt, was sich zwischen den Partnern für eine ungleiche Verteilung eingespielt hat. Wer den »Mental Load« für sich verringern will, kommt als nicht darum herum, erst einmal nüchtern die eigene Situation zu analysieren und im zweiten Schritt die tatsächliche Arbeitsbelastung für alle erkennbar sichtbar zu machen. Damit man »Mental Load« neu verteilen kann, muss man Unsichtbares sichtbar machen. Nicht immer lässt sich die Verantwortung für den Gesamtprozess und die Einzelaufgaben klar voneinander trennen. Aber je besser das gelingt, desto deutlicher wird, wo etwas umverteilt werden kann. Das ändert alles, weil jetzt klar ist, wie hoch die Belastung tatsächlich ist. Denn vieles, das als selbstverständlich angesehen wird, ist es einfach nicht. An fast allen alltäglichen Aufgaben hängen Planungs-, Dokumentierungs- und Koordinationsmaßnahmen. Es ist die Summe kleiner Dinge, die sich zu einem Berg an Arbeit auswächst – plus natürlich die gefühlte und tatsächliche Verantwortung für das Gelingen des Gesamtprozesses, die über einzelne To Dos hinausgeht. Auf dieser Grundlage schließlich, lässt sich in einer Beziehung eine faire Verteilung aushandeln, die beide Partner gleichberechtigt involviert, den »Mental Load« verringert und eine bessere Aufteilung gewährleistet. Gleichberechtigung heißt, dass sich alle im selben Maß beteiligen, zu gleichen Teilen Verantwortung übernehmen und mental sowie finanziell gleichgestellt sind. Dafür lohnt es sich, sich einzusetzen. Immer wieder.

Ist das Problem zu Hause gelöst, geht es weiter im Job! Hier müssen Kolleginnen & Kollegen die unsichtbaren Fürsorgeaufgaben am Arbeitsplatz gerecht verteilen.

Weiter geht’s im Job…

Übrigens: Fürsorge-Arbeit und »Mental Load« treten nicht nur im privaten Bereich auf. Das Bewusstsein und die Wertschätzung für die vielen ungesehenen Aufgaben im Office wie Geschenke organisieren, Kaffeekochen oder die Spülmaschine ausräumen fehlt oft. Meist werden diese Tasks klaglos von wenigen Mitarbeitenden übernommen, die sich in der Verantwortung fühlen und die nicht immer ein »Danke« dafür erhalten. Dabei wäre es so viel einfacher, wenn sich hier alle einbringen würden und auch im Business eine faire Verteilung möglich würde!

Wenn du auf deinen Alltag schaust, wie viel an Care-Arbeit lastet auf deinen Schultern? Hast du schon einmal versucht, mit deinem Partner über eine gerechtere Aufteilung zu sprechen? Ich bin gespannt auf deine Erfahrungen, die du gern in den Kommentaren posten kannst.

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Meine Liebe zu Mode und Kommunikation hat mich zu Ana Alcazar gebracht – als Texterin & Konzepterin in der klassischen Werbung groß geworden, schreibe ich seit fast 10 Jahren für unser Münchner Designerlabel. Im Redaktionsteam bin ich für alle Corporate-Themen zuständig, außerdem befasse ich mich hier mit aktuellen Trends & meinem Herzensthema Gleichberechtigung,

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