Sanna Marin & die Normalität weiblicher Führung. Was wir von Finnland lernen können.
Seit dem 10. Dezember 2019 ist Sanna Marin Finnlands neue Ministerpräsidentin. Sie ist 34 und damit die jüngste amtierende Regierungschefin der Welt. Das sollte im Jahr 2020 eigentlich kein Thema mehr sein. Ist es aber.
Die Sozialdemokratin leitet in Helsinki eine Fünf-Parteien-Koalition, die dem Mitte-Links-Spektrum zuzuordnen ist. Alle fünf Regierungsparteien werden aktuell von Frauen geführt, vier davon sind unter 35 Jahre alt. So ist das Kabinett mit Bildungsministerin Li Andersson, Finanzministerin Katri Kulmun, Innenministerin Maria Ohisalo sowie der Justizministerin Anna-Maja Henriksson klar weiblich dominiert. Insgesamt zwölf Ministerposten entfallen auf Frauen, sieben auf Männer. Im Parlament sind 47 Prozent – also fast die Hälfte – der Abgeordneten weiblich.
Zum Vergleich: Obwohl Deutschland seit 2005 von einer Frau regiert wird, kann sich die Bundesrepublik von Finnland noch so manche Scheibe abschneiden, wenn es um Gleichstellung geht. Im Oktober 2019 betrug der Frauenanteil im deutschen Bundestag nur knapp 31 Prozent – also ein Drittel. Deutschland rangiert mit diesem Wert weltweit auf dem 44. Platz in einem Ranking von 188 Ländern. Finnland hingegen besetzt Platz 8. So gut und selbstverständlich die Entwicklungen in Finnland sein sollten, so erstaunlich ist die Verwunderung über sie. Wieso überrascht ein hoher Frauenanteil einer Regierung im Jahre 2019? Was macht Finnland anders?
Frauen sind ebenbürtig – weibliche Führungskräfte die Regel.
Sie hätte nie an ihr Alter oder ihr Geschlecht gedacht, sondern vielmehr an die Gründe, die sie in die Politik gebracht hätten, das sagte Sanna Marin sinngemäß, nach ihrer Wahl auf die Frage von Journalisten. Für mich ist diese Aussage ein klares Indiz dafür, dass die Gleichstellung in der finnischen Gesellschaft viel präsenter und damit normal ist. Ein Amt wird nicht am Geschlecht festgemacht, sondern an der Kompetenz. Genau das ist ja der Kern echter Gleichstellung. Und so verwundert es nicht, dass Finnland im internationalen Gender Gap-Ranking des Weltwirtschaftsforums ganz vorne mit dabei ist. 2018 erreichte Finnland Platz 4 – hinter Island, Norwegen und Schweden. Deutschland hingegen lag auf Platz 14.
Wie kommt’s? – Ein Blick zurück bis 1906
Früh übt sich: Bereits 1868 erhielten finnische Frauen das Recht, über ihr Eigentum zu verfügen, mehr als 90 Jahre vor deutschen Frauen. Das war erst der Anfang. Als erstes Land der Welt führte Finnland 1906 volle politische Rechte für Frauen ein – ganze 11 Jahre vor Deutschland! Neben dem Wahlrecht beinhaltete das auch das Recht, für Wahlen zu kandidieren. Schon vor 114 Jahren wurde die Gleichstellung der Geschlechter also ganz offiziell zum Leitprinzip. So waren Frauen seit 1907 im Parlament vertreten. Das Gleichstellungsgesetz von 1986 wurde seit seiner Einführung mehrfach aktualisiert, seit 1995 gibt es eine Frauen- und Männerquote von 40 Prozent in sämtlichen staatlichen Gremien.
2017 rief die finnische Regierung den International Gender Equality Prize ins Leben, der die Gender-Gleichstellung auf globaler Ebene fördert. Ausgezeichnet werden jährlich Projekte, welche weltweit die Gleichstellung voranbringen.
Hohe Veränderungsbereitschaft und der Wunsch nach Gerechtigkeit
Man ist es also in Finnland gewohnt, dass Frauen ganz selbstverständlich hohe politische Ämter – und auch in der Wirtschaft Führungspositionen – bekleiden. Es ist gar nicht der Rede wert. Niemand ist der Meinung, Frauen wären weniger kompetent – einem Anwurf, der in Deutschland zwischen den Zeilen manchmal noch mitschwingt. Um in Führungsrollen zu kommen, müssen Frauen hierzulande erst beweisen, dass sie es wirklich können. Und mehr, länger und härter dafür arbeiten. Finnland lebt in einem viel stärkeren Maße Gleichstellung im Wortsinn. In dem skandinavischen Land ist die Gleichstellung historisch gewachsen und ist in der Gesellschaft verankert. Frauen machen hier Politik, weil sie Politik machen wollen. Sie müssen nicht überlegen, welche Hürden es auf diesem Weg zu überwinden gilt. Als Folge gibt es viele wichtige Politikerinnen, die wiederum als Vorbilder für andere Finninnen fungieren, es ihnen gleichzutun.
Werfen wir zum Vergleich einen Blick nach Deutschland: Ich erinnere mich im letzten Jahr an ein repräsentatives Foto, das zumindest auf gesellschaftliche Veränderung hindeutet: Angela Merkel, Annegret-Kramp-Karrenbauer und Ursula von der Leyen – also Kanzlerin, Verteidigungsministerin und EU-Kommissionschefin – sitzen nebeneinander im Schloss Bellevue. Relational gesehen jedoch gestalten im Ländervergleich in Deutschland viel zu wenige Frauen in der Politik mit (knapp 31% Frauenanteil im deutschen Bundestag). Und die Tendenz ist aktuell im politischen Umfeld rückläufig. Das weist auf fehlende Chancengleichheit hin. Die deutsche Politik ist nach wie vor männlich dominiert, es wirken patriarchale Strukturen in den deutschen Parteien. Männer werden leider immer noch mehr Kompetenzen zugeschrieben, für Frauen ist der Aufstieg in gewachsenen Männerbündnissen nach wie vor schwerer – auch wenn sicherlich schon ein Wandel zu verzeichnen ist.
Gesellschaftliche Akzeptanz & Gesetze, die Geschlechtergleichheit fördern
Neben einer bestimmten Haltung spielen entsprechende Gesetze für die Gleichberechtigung im privaten Raum eine bedeutende Rolle. So existieren in Finnland keine Steuervorteile für Ehepaare. Es besteht also kein finanzieller Anreiz mehr für Frauen, Hausfrau zu sein oder Teilzeit zu arbeiten. Als direkte Folge ist auch der Anteil weiblicher Erwerbstätiger höher. Allein in Helsinki gibt es sechs staatliche Rund-um-die-Uhr-Kitas, in denen die Kinder übernachten können. Die Arbeitszeiten sind flexibel, kürzere Tage und Homeoffice sind Standard. Der Anspruch auf Kinderbetreuung ist gesetzlich geregelt. Eltern können flexibel in den ersten drei Lebensjahren des Kindes Elternzeit nehmen und haben danach ein Recht darauf, wieder in den Job einzusteigen. Dazu kommt, dass der finnische Staat eines der besten Schulsysteme der Welt bietet: Kinder können gute Schulen mit Angeboten wie kostenlosen warmen Mahlzeiten oder Nachmittagsbetreuung besuchen – egal, wie viel ihre Eltern verdienen. Damit gelingt bei der Bildung eine Gleichheit wie in keinem anderen Land – für Jungen und für Mädchen. Frauen und Männer teilen sich Top-Jobs, weil sie gleich viel verdienen und sich gemeinsam um ihre Kinder kümmern. So entstehen ideale Bedingungen, so dass Mütter ohne Stress und Gewissensbisse Vollzeit arbeiten können – und auch mit Kindern ihre Karriere weiter vorantreiben können. Sanna Marin hat übrigens auch eine kleine Tochter.
Was nun können wir von den Finnen lernen?
Was bei uns noch Aufsehen erregt, ist in Finnland nicht der Rede wert: Frauen in Führung. Bereits 1868 erhielten finnische Frauen das Recht, über ihr Eigentum zu verfügen, 1906 dann das volle politische Mitbestimmungsrecht. Deutschland liegt hier im Vergleich zeitlich zurück. Frauen in Finnland hatten das Glück, früher den Weg in den öffentlichen Raum beschreiten zu können. In die Politik. In die Arbeitswelt. Die Gesellschaft konnte sich länger daran gewöhnen. In einer Gesellschaft, in der Gerechtigkeit in besonderem Maße ein Wert an sich ist, und die eine hohe Bereitschaft hat, sich zu verändern, passieren Dinge einfach schneller. Das zeigt die Geschichte im Vergleich ganz deutlich – bis heute.
Während in vielen Ländern verkrustete patriarchale Strukturen und daraus resultierend die sprichwörtliche »Gläserne Decke« Frauen am Aufstieg hindern, kultivierten einige skandinavische Länder das Ideal der Gleichberechtigung. Frauen an der Macht erstaunen niemanden. Das soll nicht heißen, dass alles perfekt ist. Die Bedingungen in Finnland sind deutlich besser, aber dennoch gibt es noch Verbesserungspotenzial, was die relativ große Gender Pay Gap zeigt: Auch in Finnland verdienen Frauen noch immer 16 Prozent weniger als Männer und übernehmen einen größeren Anteil der Hausarbeit sowie der Fürsorge für die Kinder. Trotzdem ist die Gesellschaft insgesamt einen Schritt weiter. Das zeigt sich in den vielen die Gleichstellung begünstigenden Gesetzen rund um Ehe, Familie und Beruf. Der Erfolg ist also kein Zufall, sondern – neben der Haltung – auch das Ergebnis jahrzehntelanger juristischer Gleichberechtigung. Diese wurde schon 1906 in einer Gesellschaft möglich, die grundsätzlich beweglich und veränderungsbereit ist. Und diese Faktoren wirkten bislang in Finnland tatsächlich stärker als in Deutschland.
So plant die aktuelle finnische Regierung um Sanna Marin, das finnische Elternzeitmodell noch weiter zu verbessern. Aktuell wird eine 4-Tage-Woche diskutiert. Ich bin gespannt, was dabei herauskommen wird. Um zu zeigen, wieviel Wert in Finnland auf Gerechtigkeit und aufrichtige Gleichstellung der Geschlechter gelegt wird, sei anschließend erwähnt, dass die staatliche Gleichstellungsbeauftragte eine Beschwerde zu aktuellen Geschlechterrepräsentation in der Regierung erhalten hat – 12 Frauen unter 19 Ministerposten. Ich lese das als wunderbares Zeichen, dass das Land weitgehend Gleichberechtigung im eigentlichen Sinne anstrebt – für mich persönlich bedeutet das, die Loslösung von Debatten über Mann und Frau sowie die Realisierung von Chancengleichheit. In diesem Klima entscheiden dann Kompetenzen und nicht das Geschlecht. Für mich geht es nicht darum, ob eine Frau oder ein Mann an der Spitze steht. Ich wünsche mir, dass Kompetenz und persönliche Eignung die entscheidenden Merkmale bei der Besetzung von staatstragenden Rollen sind. Ob Mann oder Frau ist mir dann egal.