Mrz 22, 2024

Vom »Male Gaze« zum »Female Gaze« in der Mode

 

»Even pretending you aren’t catering to male fantasies is a male fantasy: pretending you’re unseen, pretending you have a life of your own, that you can wash your feet and comb your hair unconscious of the ever-present watcher peering through the keyhole, peering through the keyhole in your own head, if nowhere else. You are a woman with a man inside watching a woman. You are your own voyeur.«

 _Margaret Atwood

 

Wir alle kennen ihn. Wir alle sind damit aufgewachsen. Wir sehen ihn in der Kunst, im Kino, in der Mode, in der Pornografie und in der Werbung: den sog. Male Gaze. Die meisten Bilder, die uns geprägt haben, sind ihrerseits geprägt vom männlichen Blick.  Trotz aller Fortschritte im Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter bleibt die moderne Gesellschaft patriarchalisch. Der männliche Blick dominiert die Welt. Er diktiert die Schönheitsideale, ihre Inszenierung – und sogar das Selbstbild vieler Frauen. 

 

Was bedeutet Male Gaze?

Wörtlich übersetzt meint Male Gaze »männliches Starren«. Der Begriff, den die britische Filmkritikerin Laura Mulvey in den 1970er Jahren prägte, bezeichnet eine Darstellung von Frauen durch die metaphorischen Augen eines Mannes. Der Blickwinkel der Kamera simuliert den männlichen, sexualisierenden Blick. Frauen werden als Objekt betrachtet und nicht als individuelle Persönlichkeit.  Konsequent ist oft mehr vom weiblichen Körper zu sehen oder weibliche Darstellerinnen werden passiv beim Zuhören gezeigt, während Männer aktiv beim Sprechen zu sehen sind.

 

Von Machtgefälle & konstruierten Idealen

Jede Frau weiß um den berühmt berüchtigten Male Gaze und hat ihn schon auf sich gespürt. Wie oft wundern sich Freundinnen über unangemessene Kommentare über ihre Kleidung oder ihr Äußeres von Männern – ungefragt und oft im Arbeitsumfeld, wo man sich nicht persönlich nahe steht. Was denken sich diese Kollegen oder Vorgesetzten? Wie kommen sie auf die Idee, sich Frauen gegenüber bewertend zu äußern? Selbst Komplimente, die oft gut gemeint sein mögen, illustrieren das Problem der Bewertung. Denn, wer schaut und bewertet erhebt sich unweigerlich über diejenigen, die betrachtet und beurteilt werden – so theoretisch das zunächst klingen mag, hier offenbart sich ein Machtgefälle. Ein männlicher Kommentar zu meinem Look, von jemanden, der mir nicht nahe steht? Unerwünscht.

 

 

Dazu passt, dass Frauen leider immer noch häufig dazu erzogen werden, anderen zu gefallen. Darin liegt ein großes Problem, denn es kann dazu führen, dass Frauen lebenslang um das Thema »Optik« kreisen, sich selbst vermessen und letztlich ihren Körper nicht akzeptieren – oder lernen, ihn als Mittel zum Zweck einzusetzen. Den Körper soll Männer aufmerksam machen und andere Frauen im Konkurrenzkampf in die zweite Reihe verweisen. Um konstruierten Idealen zu entsprechen, wird gesportelt, gelitten, sich gegrämt und gehungert. Das Vergnügen derer, die betrachten, scheint irgendwie an erster Stelle zu stehen – nicht das eigene. Dieser tief verwurzelte Perfektionierungszwang der eigenen Erscheinung führt zu permanentem Stress und dem leidigen Wettbewerb unter Frauen. Dabei sollten wir zusammenstehen, uns gegenseitig unterstützen und uns gemeinsam um mehr konstruktive Einflussnahme in der Welt zu bemühen.

Ein weiteres Beispiel, das viel aussagt, ist das Dating. Scheinbar hat uns Frauen der Male Gaze auch hier voll im Griff. Jede von uns hat sich schon dabei ertappt, zu überlegen, was IHM gefallen könnte. Anstatt sich selbst mit den eigenen Augen zu sehen, ist da häufig diese »zwischengeschaltete« männliche Perspektive, die uns darüber nachdenken lässt, wie unser Gegenüber uns wohl gerade wahrnimmt. Sein Geschmack ist in dem Moment wichtiger als der eigene. Was soll ich anziehen, damit er mich gut findet, dominiert dann unsere Gedanken, statt: Was will ich anziehen, damit ich mich wohlfühle und die Person, die ich bin, sein kann.

Hier zeigt sich eine der fatalen Konsequenzen für Frauen: Denn, sozialisiert mit dem sog. Male Gaze, haben wir Frauen diesen Blick internalisiert. Unbewusst haben wir die Sichtweise der Männer zu unserem eigenen Maßstab erhoben, einen inneren Zensor etabliert, der die Gesetze der gefälligen Attraktivitätsinszenierung vorschreibt. Essstörungen, Abwertung des eigenen Körpers, Verachtung des Älterwerdens, Ageism – das alles sind direkte und dazu noch gesundheitsschädliche Folgen.

 

 Männer, die auf Frauen starren – Auswirkungen des Blicks

Wie muss ‚Frau‘ aussehen, um Männer auf der Instinktebene zu begeistern? Ein vieldiskutiertes Beispiel zu diesem Thema ist der Film: Bei vielen erfolgreichen Streifen, die unter männlicher Regie entstanden sind, wird die weibliche Akteurin entweder nebensächlich oder stark sexualisiert dargestellt.

Man denke nur an diverse Bond Girls, Megan Fox in Transformers, Black Widow 8 (Scarlett Johansson) in Avengers oder Superheldinnen, die zwar als sog. starker, weiblicher Hauptcharakter verkauft, aber dennoch in hautengen, kurzen oder stark ausgeschnittenen Outfits inszeniert werden. Es gibt ein auffällig einheitliches Schema, einen eindeutigen Kamera-Blickwinkel auf Frauen. Altwerden geht nicht, ab dem 30. Lebensjahr beginnt das Verschwinden der Frauen vor der Kamera, ab ihrem 50. Geburtstag sind sie nur noch ausnahmsweise präsent. Die bittere Realität ist, dass Frauen lernen, sich anhand männlicher Maßstäbe zu definieren. Und sich schließlich selbst und leider auch gegenseitig so beurteilen. Der männliche Blick, der durch die Dominanz männlicher Regisseure in der Filmbranche gang und gäbe ist, wird zur unbewussten Selbstobjektivierung von Frauen – auch, wenn kein Mann anwesend ist.

 

 

Der männliche Blick beeinflusst, wie Frauen sich selbst sehen. Der (unbewusste) Druck, sich dieser Sichtweise anzupassen, prägt die Art und Weise, wie Frauen über ihren eigenen Körper, ihre Fähigkeiten und ihren Platz in der Welt denken – und über andere Frauen. Es besteht das Risiko, diese Objektivierung zu verinnerlichen, was das Selbstwertgefühl unterwandert. Der männliche Blick bestimmt zu einem großen Teil das Verhältnis der Frauen zu ihrem Körper, und die Modeindustrie hat dabei eine nicht zu vernachlässigende Rolle gespielt.

 

»The male gaze has long been associated with a neutral perspective because the vast majority of films are produced by men who watch women. It must be said that this gaze has an origin and is linked with male domination.«

_Adèle Haenel, Journalistin

 Male Gaze in der Mode

Fangen wir einmal bei uns selbst an, bei unseren Styles. Wie frei vom Male Gaze wählen wir unsere Outfits? Inwiefern steuert uns der (unbewusst erlernte) Wunsch, das Objekt der männlichen Aufmerksamkeit zu sein? Wie stark sind wir darauf konditioniert, uns für den potenziellen Fall zu kleiden, dass ein Mann auftaucht, dem wir gefallen wollen? Wie oft ziehen wir uns ganz selbstverständlich so an, dass unser Look uns die meisten Komplimente von Männern und bestenfalls den Neid anderer Frauen einbringt?

Ja, und die Modeindustrie – wie steht sie dazu? Rein historisch betrachtet, ist die Fashion-Branche seit jeher im Konzept des Male Gaze verwurzelt – allein schon deswegen, weil der Anteil weiblicher Designer:innen immer noch weit unter dem der männlichen Kollegen liegt. Vor allem aber, weil die Fashion-Industrie meistens noch von Männern gelenkt wird. Völlig zurecht wird die Branche kritisiert, weil sie unrealistische Schönheitsideale aufstellt und Looks kreiert, die bestimmten Geschlechterrollen entsprechen. Daran haben nicht zuletzt auch die hauptsächlich männlichen Fashion Fotografen einen Anteil.

 

 

Besonders in der Mode wird viel mit dem Wort »Weiblichkeit« geworben. Selbstbewusst gelebte Weiblichkeit ist toll, aber, wenn dahinter eine reine Sexualisierung steht, werden Frauen wieder zum Objekt und damit klein gemacht. Das kann sich in sehr sexualisierter hyperfemininer Kleidung zeigen, die zudem oft unpraktisch ist. Die Falle lauert darin, dass wir Frauen dann oft glauben, unsere feminine Seite anzunehmen, in Wirklichkeit aber unbewusst für den männlichen Blick, die männliche Anerkennung handeln. Der männliche Blick setzt die Standards, wir folgen. Fashion konzentrierte sich meist auf traditionelle Geschlechterrollen und klassische Attraktivitätsstandards. Dennoch lohnt es sich hier, zu differenzieren. Denn es lassen sich über alle Jahrzehnte hinweg in der Mode immer wieder Strömungen identifizieren, die sich gegen gängige Klischees oder reduzierte Bilder von Weiblichkeit gerichtet haben. Trends, die eben gerade Ausdruck vom Wunsch nach mehr Geschlechtergerechtigkeit waren. Da Mode sich seismografisch am Puls der Zeit bewegt und den Zeitgeist ausdrückt, ist die Modegeschichte auch geprägt von Gegenbewegungen zum Male Gaze: Man denke nur an die Abschaffung des Korsetts, die Hippie-Bewegung und die Vorlieben der Gen Z. Dennoch: Die Betonung der männlichen Wertschätzung und Anziehungskraft hat die Fähigkeit der Modeindustrie über weite Strecken gebremst, einen moderneren Ansatz zu verfolgen – bis jetzt! Denn es ist etwas in Bewegung …

 

Ein kürzlicher TikTok-Trend hinterfragte, wie sich Frauen nach dem Male Gaze kleiden, und wie sie sich kleiden, wenn sie authentisch sind. Die meisten Frauen wählten eine Kombination aus kurzen Shorts, Crop-Tops und anderen Kleidungsstücken, die Männern gefallen würden. Entspannter sahen die Looks aus, die sie für sich selbst kombinierten.

 

Den Blick ändern: Female Gaze als modischer Ausdruck des authentischen Selbst

Das Gegenkonzept zum männlichen Blick ist der Female Gaze – konzipiert als Antwort auf den alles beherrschenden Male Gaze. Für die Darstellung von Frauen im Film bedeutet das, dass sie nicht als Objekte, sondern als Wesen mit Charakter und Persönlichkeit gezeigt werden. Der weibliche Blick wünscht sich, dass Frauen sich nur für sich selbst ausdrücken. Mit dem Kerngedanken »Express yourself« klettern Frauen aus der Box, in welche der männliche Blick sie ‚eingesperrt‘ hatte. Viele Frauen limitierten ihren eigenen Stil, indem sie sich weiblicher kleiden wollten – schlicht für die visuelle Anerkennung der Männer. Der Preis dafür ist, den Selbstausdruck einzuschränken. Zur Kleidung für den männlichen Blick gehören oft figurbetonte Kleidung, neutrale Farben, kurze Röcke oder Kleider und wenig Prints.

 

 

Es wird also Zeit für den Female Gaze und damit für Mode, die auf Individualität zugeschnitten ist und nicht auf das Geschlecht. Dahinter steht die einfache Erkenntnis, dass ‚Frau‘ sich nicht so kleiden muss, wie es heterosexuelle Männer attraktiv finden. Auch der männliche Blick in den Köpfen der Designer:innen tritt zurück – es gibt eine starke Entwicklung hin zum androgynen Look und zu Unisex-Kleidung, die Männer und Frauen gleichermaßen tragen können. Auf den Runways sieht man Kleider für Männer, Blazer-Sets für Frauen, Röcke, die für alle Geschlechter angeboten werden. Letztlich steckt dahinter eine Trennung von Sex und Mode, Fashion wird also entsexualisiert. Die New-Wave-Mode stellt die Geschlechternormen in Frage und wirft den männlichen Blick, der die Mode bislang wesentlich bestimmte, über den Haufen.

 

 

Wenn sich Frauen nach dem Female Gaze kleiden, folgen sie ihrem eigenen Stil, ihren eigenen Stimmungen, ihrem Wohlfühl-Level und tragen das, wozu sie Lust haben. Die Kleidung wird davon bestimmt, wie sie sich an einem bestimmten Tag fühlen oder wie ihr Outfit sie fühlen ließ, und nicht nur davon, wie sie aussehen. Sie lösen sich von dem inneren Bild, sich so kleiden zu müssen, wie es heterosexuelle Männer attraktiv finden könnten. Das heißt eben genau nicht, alle Röcke und Kleider gegen weite Freizeithosen und XXL Pullis einzutauschen, sondern seinen eigenen Ausdruck zu finden. Dieser kann unkonventionell, Indie, Hippie oder eben auch konventionell erscheinen – intuitiv gewählt, sinnlich empfunden und unbeeindruckt davon, heterosexuellen Normen zu entsprechen. Der weibliche Blick sieht den Ausdruck der eigenen Leidenschaften gern: Was eine Frau sich für sich vorstellt, soll schlicht in ihren eigenen Augen für sie ästhetisch ansprechend sein.

 

In unserem Alltag unterscheiden sich Female und Male Gaze andauernd. Medien zeigen deutlich, dass, wenn eine Frau nicht als Sexobjekt dargestellt wird, die Information oder Werbung nicht auf Männer ausgerichtet ist.

 

Dress Better – Fashion für den Female Gaze

Kleidung ist mehr als nur Stoff am Körper. Die Art, wie wir uns kleiden, sendet immer eine Botschaft. Im Idealfall ist sie so authentisch wie möglich und drückt den eigenen Stil aus. Dazu gibt es unendlich viele Möglichkeiten, da es eine sehr persönliche Entscheidung sein sollte. Der weibliche Blick kann verschiedene Aspekte eines Looks in den Vordergrund stellen: Komfort, Funktionalität, Vielseitigkeit, Kult, Farben, Materialien, Silhouetten oder Nachhaltigkeit. Gerade im Zeitalter von Micro-Trends und Fast Fashion ist ein eigener Stil umso wichtiger. Entscheidend ist wirklich, sich bewusst zu machen, wie stark wir konditioniert sind, Männern gefallen zu wollen – auch durch die Kleidung –, statt unsere Individualität zu betonen und uns selbst zu folgen.

 

Wenn der verinnerlichte männliche Blick die primäre Linse für Outfit-Entscheidungen ist, schränken wir uns ein und schwächen unsere Position in einer Welt, in der Frauen immer noch nicht gleichberechtigt sind. Die eigene Weiblichkeit auszudrücken – ohne den alleinigen Zweck, Männern zu gefallen, das ist ein guter Ansatz. Was immer wir dann tragen, wir tragen es mit einer selbstbewussten Haltung, die nicht abhängig ist von einer externen Bewertung. Also, nichts wie rein ins Naked Dress …

 

It’s all about YOU: Mit deinen Looks die eigene Persönlichkeit unterstreichen

  • Statt Konformität – experimentieren
  • Kreativ kombinieren
  • Mit der Silhouette spielen – Layering
  • Mom-Jeans, Creepers und lockere Oberteile
  • Muster und starke Farben
  • Fließende Silhouetten
  • Ungewöhnliche Mixes: Flache Schuhe zu edlen langen Kleidern
  • Stilbrüche
  • Mutige Materialmixes
  • Schlaghosen, Culottes
  • Sexy, aber mit Idee statt nur kurz und eng
  • Nicht stereotyp feminin, sondern individuell

 

 

Die Haltung macht den Unterschied

Mit »The Future is Female«-Shirts wird die Modebranche noch lange nicht feministisch. Und keine von uns ist weniger anhängig vom inneren Male Gaze, wenn wir nur noch auf Schlabber-Looks setzen würden. Es geht um etwas anderes: Sich des Einflusses des männlichen Blicks bewusst zu werden, ist der Weg, um sich von seiner ‚Macht‘ zu befreien. Statt uns unbewusst stereotypen weiblichen Bildern anzupassen, sollten wir die Chance nutzen, die Person zu sein, die wir sein wollen. Weiblichkeit kennt mehr Ausdrucksformen als die Vermittlung sexueller Verfügbarkeit – ein viel zu reduziertes Schema, das Frauen klein macht. Nichts ist ermächtigender als die eigene Individualität, das eigene So-Sein zu leben und auszudrücken. Lasst uns experimentieren, die Grenzen der heteronormativen Kleidung überschreiten und das tragen, was uns in unseren Augen attraktiv macht. Hauptsache, wir fühlen uns wohl und lassen uns von niemand anderem sagen, was an uns gut aussehen könnte. Was soll deine persönliche Botschaft sein, die durch deinen Look vermittelt wird? Die Zukunft der Mode ist da, sie ist female und vielseitig, und es geht um dich!

 

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Meine Liebe zu Mode und Kommunikation hat mich zu Ana Alcazar gebracht – als Texterin & Konzepterin in der klassischen Werbung groß geworden, schreibe ich seit fast 10 Jahren für unser Münchner Designerlabel. Im Redaktionsteam bin ich für alle Corporate-Themen zuständig, außerdem befasse ich mich hier mit aktuellen Trends & meinem Herzensthema Gleichberechtigung,

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