Aug 22, 2024

Matilda-Effekt – Wie Frauen in der Wissenschaft übergangen werden

Was haben die österreichische Physikern Lise Meitner, die Astrophysikerin Jocelyn Bell Burnell, die Biochemikerin Rosalind Franklin, die Informatikerin Margaret Hamilton und die Mikrobiologin Esther Lederberg gemeinsam? Alle diese Frauen machten bahnbrechende Entdeckungen, haben Großes geleistet, waren Pionierinnen in ihrem Feld. Doch ihre herausragende Arbeit wurde zunächst vergessen, übergangen oder schlicht ignoriert. Bei der einen oder anderen schmückten sich am Ende Männer mit deren Federn. Sie bekamen die Nobelpreise, die eigentlich – oder zumindest auch – den Frauen zugestanden hätten: 

► Lise Meitner und Otto Hahn entdeckten gemeinsam die Kernspaltung – den Nobelpreis für Chemie des Jahres 1944 erhielt Hahn 1945 jedoch alleine.

► Die brillante britische Biochemikerin Rosalind Franklin entdeckte die DNA Doppelhelix, für die später die Molekularbiologen Francis Crick und James Watson mit dem Nobelpreis für Medizin gewürdigt wurden.

► Die Mikrobiologin Esther Lederberg leitete die Forschung zur genetischen Rekombination und zum bakteriellen Erbgut. 1958 gewannen Joshua Lederberg, ihr Ehemann und zwei weitere Kollegen, George Wells Beadle und Edward Tatum, den Nobelpreis für Medizin. Esther Lederberg saß im Publikum.

► Die Astrophysikerin Jocelyn Bell Burnell entdeckte 1967 sog. ‚Pulsars‘, pulsierende Radioquellen eines Neutronensterns. Den Nobelpreis für Physik im Jahr 1974 bekam ihr Doktorvater Antony Hewish, er wurde für ihre Entdeckung alleine ausgezeichnet.

► Die Mathematikerin und Informatikerin Margaret Hamilton entwickelte am Massachusetts Institute of Technology (MIT) den Code, der die Mondlandung 1969 erst möglich machte. Sie programmierte die Navigationssoftware des Bordcomputers der Apollo 11. Der Forscherin blieb die Anerkennung jahrzehntelang verwehrt.

 

 

Diese prägnanten Beispielen der Wissenschaftsgeschichte zeigen, wie wissen­schaftliche Leistungen von Frauen unsichtbar gemacht werden. Die systematische Diskriminierung von Frauen im Wissenschaftsbetrieb hat einen Namen: Matilda-Effekt. Er geht auf die Frauenrechtlerin und Soziologin Matilda Joslyn Gage zurück, die bereits 1870 auf den oben geschilderten Missstand in einem Essay mit dem Titel »Woman as Inventor« – Frauen als Erfinderinnen – hinwies. Darin macht sie sich für Forscherinnen und Erfinderinnen stark und widerspricht der damals herrschenden Meinung, dass Frauen nicht über erfinderischen Drang oder über die nötige Begabung für das wissenschaftliche Arbeiten verfügten. Frauen sollen also keinerlei Talent für die Wissenschaft haben und nicht logisch denken können? Hört. Hört.

 

 

Was genau ist der Matilda-Effekt?

Der Matilda-Effekt beschreibt ein Phänomen im wissenschaftlichen Sektor – nämlich die Tatsache, dass Beiträge von Wissenschaftlerinnen in der Forschung häufig übersehen, verdrängt oder ihre Entdeckungen schlicht männlichen Kollegen zugeschrieben wurden.

Vor allem der Nobelpreis ist zum Symbol dieser bis heute unauflösbaren Chancen-ungleichheit der Geschlechter im Wissenschaftsbetrieb geworden. Er ist aber nur die Spitze des Eisberges. Denn das Problem geht tiefer und fängt vor allem viel früher an. Nämlich schon bei der alltäglichen Sichtbarkeit. In der Wissenschaft bekommt der- oder diejenige eine Stimme und letztlich einen Namen, der oder die häufig zitiert wird. Fakt ist: Forscherinnen werden weniger zitiert und in Studien angeführt als ihre männlichen Kollegen. So verfestigt sich der Eindruck immer weiter, dass Männer kompetenter zu sein scheinen. Denn ihre Werke sind ja in aller Munde – und in allen Studien zitiert.

 

 

Und jetzt wird’s spannend, denn jetzt kommt der sog. »Matthäus-Effekt« ins Spiel. Dieser besagt, dass dort, wo bereits Erfolge sind, ganz natürlich weitere Erfolge folgen. Frei nach dem biblischen Wort aus dem Buch Matthäus 25,9: »Denn, wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.« Die soziologische These meint damit, dass da, wo der Effekt auftritt, Erfolge durch bereits vorhandene Erfolge entstehen – teilweise losgelöst von Leistungen. Dazu sagt Katie Hafner, Journalistin und Produzentin des Podcastprojekts Lost Women of Science, in dem sie Frauen in der Wissenschaft sichtbar macht: »Es geht darum, nicht in einer Studie genannt zu werden; nur ein Sternchen oder eine Fußnote zu sein«. Die Wahrheit ist: Dass Frauen weniger wahrgenommen werden, behindert ihre Karriere auf allen Stufen – das Schlimme ist, dass das kein Phänomen von gestern oder aus dem letzten Jahrhundert ist, sondern im Hier und Jetzt noch traurige Realität.

 

»Das Problem, dass die Anerkennung nur an Männer geht, besteht schon extrem lange. Es ist wirklich eine Tragödie.«

_Katie Hafner, Journalistin und Produzentin von Lost Women of Science

 

Wie kommt es überhaupt zum Matilda-Effekt?

Der Ursprung liegt in der grundlegenden Diskriminierung von Frauen in allen Lebensbereichen in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft seit jeher. Heute weichen diese Schemata auf, aber eben langsam. Der Weg zu höherer Bildung war Frauen bekanntlich lange verschlossen und man reduzierte sie ausschließlich auf die vermeintlich ‚naturgegebene‘ Rolle als Hausfrau und Mutter. Eine männerdominierte Wissenschaft, welche die Diagnose der »Histrionischen Persönlichkeitsstörung«, also der Hysterie, jahrhundertelang als rein weibliches Phänomen beschrieb, hatte ihre Rechtfertigung gefunden: Frauen sind nicht dazu in der Lage, analytisch zu denken und wissenschaftliche Arbeit zu leisten. Es ist schwer auszuhalten, dass das griechische »Hysteria«, also die Diagnose einer Störung, so viel wie »Gebärmutter« bedeutet. Frauen wurden auf das Mutter- und Hausfrauendasein begrenzt.

 

 

Als Folge davon standen wissenschaftliche Positionen bis vor wenigen Jahrzehnten weiblichen Talenten überhaupt nicht offen. Erinnere dich: Bis in die 70er Jahre durften Männer in Deutschland noch bestimmen, ob ihre Frau arbeiten darf – oder eben nicht. Selbst, wenn eine Frau Zugang zum wissenschaftlichen Bereich bekommen konnte, dann waren es häufig Rollen als Sekretärinnen oder Assistentinnen. In diesen Positionen hätten sie unmöglich als Autorinnen von Studien in Erscheinung treten können. Und genau darauf kommt es in der Wissenschaft an. Forscherinnnen und Forscher müssen veröffentlichen, um Reputation zu gewinnen. Generell wurden Frauen – auch wegen der zeitintensiven Zusatzaufgabe der Care-Arbeit als Hausfrau und Mutter – per se inhaltlich weniger ernst genommen. Egal, wie genial sie waren. Die Beispiele eingangs zeigen es deutlich: Viele dieser hochtalentierten Frauen arbeiteten mit ihren Männern oder Kollegen zusammen mit dem Ergebnis, dass ihre Errungenschaften oder ihre relevanten Anteile an den Erfolgen alleine den Männern zugeschrieben wurden. Dazu kommen noch weitere Faktoren, welche Frauen behinderten und heute noch hemmen.

 

Great-Man-Theory & Gender Citation Gap

Wissenschaftliches Arbeiten ist im Kern kollaborativ und meist eine echte Teamleistung. Die Komplexität der Forschungsobjekte erfordert häufig viele kluge Köpfe, um Modelle zu erstellen, valide Daten zu erheben und Ergebnisse abzuleiten. So sehen wir das heute. Denn glücklicherweise hat sich das Verständnis geändert. Nicht so, noch vor einigen Jahrzehnten, als man davon ausging, dass die (wissenschaftliche) Welt von einzelnen strahlenden männlichen Helden vorangebracht würde. Diese sog. Great-Man-Theory hatte zur Konsequenz, dass herausragende Erkenntnisse vordringlich einem einzigen Individuum zugerechnet wurden – und immer demselben: dem weißen Mann. In dieser Lesart wissenschaftlicher Höchstleistung war kein Platz für Teams – und schon gar nicht für die Frauen, die in diesen Arbeitsgruppen oft federführende Vordenkerinnen waren.

 

 

Leider ist das noch nicht das Ende der Kausalkette: Der Gender Gap macht also auch vor der Wissenschaft und ihren Publikations-­ und Zitierpraktiken nicht halt. Neben der zurecht vielbeklagten Gender Pay Gap tut sich nämlich in Forschung und Wissenschaft im universitären Umfeld eine weitere Lücke auf: die Gender Citation Gap (»Geschlechtsspezifische Zitierlücke«). Von Frauen dargelegte Erkenntnisse erhalten – statisch gesehen – weniger Aufmerksamkeit in der Scientific Community als die veröffentlichten Theorien der männlichen Kollegen. In wissenschaftlichen Arbeiten wie Doktorarbeiten, Habilitationen oder Studien werden überproportional häufig männliche Forschende erwähnt. Weibliche Forschende finden seltener oder gar keine Erwähnung. Wissenschaftlerinnen werden auch heute noch weniger zitiert – und, zitiert zu werden, ist eine hohe Währung in der Wissenschaft. Das wirkt sich in einem Feld, in dem Zitationsindizes bedeutsam sind, direkt auf potentielle Karrierechancen aus. Das Ergebnis ist klar: Bestehende Ungleichheiten werden immer weiter fortgeschrieben. Ein echter Teufelskreis. Und so ist es kein Wunder, dass vor allem in den MINT-Kategorien (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) Nobelpreisträger:innen nach wie vor vorwiegend weiß und männlich sind.

 

Zahlen & Fakten zur Berücksichtigung von Frauen in der Wissenschaft

► Anzahl der Nobelpreise von 1901–2023: 621
► Anzahl der Preisträger:innen: 965
► Anzahl an Frauen: 65
► Anteil der Frauen an dem Nobelpreis für Physik seit 1901: 2,2%
► Weibliche Studierende an deutschen Hochschulen mit Abschluss 2021: 53%
► Vollzeit-Professuren mit Frauen besetzt: 27%

Quelle: https://de.statista.com/

 

Gesellschaftlich gewachsene Vorstellungen als Hindernis

Auch, wenn Frauen mittlerweile in der Wissenschaft besser repräsentiert sind und in Sachen Geschlechtergerechtigkeit gewisse Fortschritte gemacht wurden, hält sich der Matilda-Effekt nachhaltig. Dazu tragen gesellschaftlich tief verwurzelte Bilder und mehr oder minder bewusste kollektive typologische Festschreibungen bei. Es scheint in den Köpfen verankert zu sein, dass der typische Forschende ein weißer Mann sei und eben keine Frau. Kompetenz, Handlungsbereitschaft und Expertenwissen werden instinktiv stärker bei Männern verortet. Gerade, weil das vielen nicht bewusst ist, dass sie so denken, ist es schwierig, das zu verändern. Woran das liegt, ist klar. Männer wurden aufgrund ihrer früheren Erfolge über Jahrhunderte hinweg mehr hervorgehoben (Matthäus-Effekt) und werden damit heute noch als kompetenter empfunden als die Frauen, deren Erfolge totgeschwiegen wurden. Dazu gibt es Studien, die du hier nachlesen kannst. Offensichtlich wirkt der sog. Gender Bias, also geschlechtsspezifische Wahrnehmungsverzerrungen, – und zwar ganz schön stark.

 

 

Denn sowohl Männer als Frauen (!) zitieren in wissenschaftlichen Arbeiten häufiger männliche Autoren, was wiederum zum Nichtgesehenwerden der Wissenschaftlerinnen beiträgt. Wie geht es dir? Wem traust du mehr Expertise zu – Männern oder Frauen? Manchmal haben wir Vorurteile, die uns selbst nicht bewusst sind – also wirkliche »Blind Spots«. Wenn ein neuer Impfstoff auf den Markt kommt, vertraust du mehr, wenn er von einer Medizinerin oder von einem Mediziner entwickelt wurde?

Bei der Recherche für den Artikel musste ich oft an Rebecca Solnits Essay »Wenn Männer mir die Welt erklären« denken. Darin beschreibt die Autorin eine Szene auf einer Party, bei der ihr der Gastgeber monologisch von einem Buch erzählte und ihr den Inhalt erklären wollte. Ihre Einwürfe, dass sie selbst die Autorin sei, überhörte er aus reiner Selbstgefälligkeit mehrfach – er konnte es sich schlicht nicht vorstellen. Am Ende stellte sich heraus, dass er das Buch nicht einmal gelesen hatte, über das er so selbstgewiss monologisierte. Die Parallele hier ist, dass die Deutungshoheit vermeintlich beim Mann angenommen wird – und das ganz offensichtlich noch häufig so ist. Im Sinne echter Gleichberechtigung sind Kompetenzen aber nicht nach Geschlecht verteilt, sondern nach individueller Expertise und Können.


Mehr Anerkennung für Frauen in Wissenschaft & Forschung – aber wie?

Erst in jüngster Zeit werden Frauen in der Wissenschaft mehr wahrgenommen, auch, wenn wirkliche Gleichberechtigung noch weit entfernt ist. 2020 erhielt zwar ein weibliches Team, Jennifer A. Doudna und Emmanuelle Charpentier, den Nobelpreis in Chemie. Die Neigung, Männerstudien eher zu zitieren, bleibt allerdings relativ konstant. Interessant ist weiterhin, wie stark der Gender Bias wirkt: Frauen werden oft als die  besseren Hochschullehrerinnen wahrgenommen, Männer werden für ihre akademische Leistung belobigt. Streng genommen greift auch hier ein tradiertes Rollenverständnis – nämlich das der Frau als Caretakerin mit der emotionalen Kompetenz. Intellektuelle Brillanz verortet man bei den männlichen Vertretern des Faches.

 

 

Denkt man darüber nach, wie es gelingen kann, Frauen und ihren Leistungen mehr Raum im wissenschaftlichen Feld zu geben, kommen einem zunächst sehr praktische Lösungsansätze in den Sinn. Ein guter Ansatz ist die Verringerung der Gender Citation Gap: Frauen und ihre exzellenten Forschungsergebnisse oder Theorien sollten in wissenschaftlichen Arbeiten und in Studien häufiger zitiert werden. Wissenschaftlerinnen sollten auch in den Medien und auf Social Media präsent sein – in Form von Interviews oder Beiträgen. Sichtbarkeit ist wichtig.

Ich finde auch, dass die Errungenschaften von Wissenschaftlerinnen in der Vergangenheit im Hier und Jetzt stärker gewürdigt werden sollten. Es gibt schon einige Bücher, Podcasts etc., dennoch ist das kein Thema, das in aller Munde ist – so sollte es aber sein. Es ist wichtig, zu zeigen, dass kluge Frauen schon seit wir denken können eine entscheidende Rolle gespielt haben – denn das ist in vielen Köpfen noch nicht verankert. Außerdem sollte ein Bewusstsein für die historische und die bestehende Ungleichheiten in der Forschung geschaffen werden.

Gibt es etwas Stärkeres als weibliche Role Models – intelligente, selbstbewusste, unbeeindruckbare Frauen – als Motivation für junge Wissenschaftlerinnen? Es lohnt sich, auch im wissenschaftlichen Sektor weiterhin für mehr Gleichberechtigung zu streiten.

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Meine Liebe zu Mode und Kommunikation hat mich zu Ana Alcazar gebracht – als Texterin & Konzepterin in der klassischen Werbung groß geworden, schreibe ich seit fast 10 Jahren für unser Münchner Designerlabel. Im Redaktionsteam bin ich für alle Corporate-Themen zuständig, außerdem befasse ich mich hier mit aktuellen Trends & meinem Herzensthema Gleichberechtigung,

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