Jan 14, 2021

Alltagssexismus – so nicht!

Jemand tweetet über eine Journalistin »Sie redet Scheiße, aber ich würde sie gerne klarmachen.«. Ehrlich – mir bleibt bei solchen Sätzen regelmäßig die Luft weg. Und das ist kein Sonderfall. Im Gegenteil: Viele Frauen bekommen täglich solche Kommentare in allen möglichen Spielarten an den Kopf geworfen, getarnt als vermeintliches Kompliment, als wohlwollender Rat oder ganz platt als Stammtischparole. Dass das nur eine Spielart des Sexismus ist, macht es nicht besser und auch nicht, dass diese Art der Abwertung keineswegs nur Frauen trifft. Auch Männer sind betroffen.

Seximus – eine Begriffsklärung.

Aber was ist Sexismus genau? Jeder kennt den Begriff und jeder verbindet damit etwas. Das Wort selbst stammt aus dem Amerikanischen und wurde in den 1960er Jahren erstmals benutzt. Es setzt sich aus »Sex« und »Rassismus« zusammen und meint die Benachteiligung und Diskriminierung eines Menschen wegen seines biologischen Geschlechts – egal, ob Mann oder Frau. Sexismus ist also ein Sammelbegriff für verschiedene Formen der Übergriffigkeit und zugleich Herabwürdigung des anderen Geschlechts. Und damit eine Ungleichbehandlung. Im Grundgesetz ist der sog. Gleichbehandlungsgrundsatz verankert: Art. 3 GG: (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. (…) (3) Niemand darf wegen seines Geschlechts benachteiligt werden. (…).

Wer ist betroffen?

Niemand würde geschlechterübergreifend widersprechen, dass Sexismus ungut, herabsetzend und sozial zu verurteilen ist. Denn Sexismus verfolgt immer ein Ziel: die reine Objektivierung einer Person, sodass sie letztlich zum Sexobjekt werden kann.

Dennoch ist Sexismus allgegenwärtig. Weder «Sexismus« noch »sexuelle Belästigung« beschränken sich auf Frauen. Per Definition können Männer und Frauen gleichermaßen von geschlechterbezogener Diskriminierung und sexueller Belästigung betroffen sein. Aus eigener leidvoller Erfahrung kann Thomas Richard Lorenzen berichten, der im Rahmen seiner Dudelsack-Auftritte als Drum Major regelmäßig Kilt trägt und sich fragen lassen muss, was er wohl unter dem Schottenrock anhätte. Das hat der Musiker zum Anlass genommen, dem Alltagssexismus ganz grundsätzlich den Kampf anzusagen.

Studien belegen jedoch, dass im Alltag Frauen wesentlich häufiger sexistischer Herabwürdigung ausgesetzt sind und sexuelle Belästigung erfahren als Männer. Ein paar Beispiele: Bis vor kurzem noch hatten Frauen deutlich weniger Rechte als Männer, noch heute erhalten Frauen für die gleiche Tätigkeit weniger Geld als Männer (Gender Pay Gap) und werden nach wie vor zu oft auf ihr Äußeres reduziert. Nochmal zur Erinnerung: Auf dem Gender Equity Index liegt Deutschland aktuell auf Platz 13. Die Diskriminierung von Frauen wird auch in der Sprache sichtbar: Sehr lange schloss die männliche Form ganz selbstverständlich Frauen mit ein (Lehrer/Sportler/Politiker). Sprache spiegelt unweigerlich Denkmuster wider und bei den Worten »Herrlich« und dem abwertenden »Dämlich« tritt das deutlich zutage. Auch Aussagen wie »Jungs sind einfach wilder als Mädchen.« und »Mädchen sind einfühlsamer.« sind tendenziell sexistisch. Eben weil sie das eine Geschlecht entschuldigen und das andere benachteiligen sowie geschlechterspezifische Rollen zuschreiben. Und an der Stelle beginnt Sexismus, immer dann, wenn Klischees über Frauen und Männer bemüht werden, ist das ein fruchtbarer Nährboden.

Schaut man auf konkrete Zahlen, zeigt sich eindeutig, dass prozentual häufiger Frauen von Sexismus betroffen sind – privat, in der Werbung und am Arbeitsplatz. Eine deutschlandweite Studie aus dem Jahr 2017 brachte Folgendes ans Licht: Bei insgesamt 23.463 Fällen von Beleidigung mit sexistischem Hintergrund gingen nachweislich 3800 von Frauen und mehr als 16.000 Fälle von Männern aus. Noch deutlicher wird die Verteilung bei Fällen von sexueller Nötigung oder Vergewaltigung:  Bei 11.282 Fällen insgesamt handelten in 9000 Fälle Männer und in 107 Fällen Frauen – die Verteilung liegt also bei 99% zu 1%. (Quelle: Zahlen und Fakten. Ist Sexismus immer männlich?)

Wahrscheinlich ist die Dunkelziffer noch höher, denn Scham, Mangel an Beweisen oder Angst verhindern eine Anzeige. Aber auch in der Werbung fand sich 2017 Sexismus. Der deutsche Werberat beanstandete 2017 321 Fälle sexistischer Werbung, in 13 Fällen wurden Männer diskriminiert, der Rest betraf Frauen. In 98 Fällen musste die Werbung geändert oder sogar gestoppt werden. Die Studie wies auch nach, dass sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz vor allem von Männern ausgehen. Warum ist das so?

Das alte Problem: Es geht um Macht.

Dass überproportional viele Frauen von Männern belästigt und diskriminiert werden, illustriert das gesellschaftlich noch nicht aufgelöste Machtgefälle zwischen Männern und Frauen. Denn sexistisches Verhalten steht häufig im Zusammenhang mit Machtausübung. Über Jahrhunderte hinweg ist ein gesellschaftliches System entstanden, das Männer bevorzugt. Patriarchale Strukturen und Machtzirkel weichen zwar immer mehr auf, aber eben nur sehr langsam – und bestimmen an vielen Stellen noch die Gesellschaft. Gerade in der Arbeitswelt, in der Schlüssel- und Führungspositionen nach wie vor häufiger männlich besetzt sind. Durch Sexismus wird ein ungleicher sozialer Status von Frauen und Männern hergestellt und verfestigt. Wir sprechen also nicht über traurige Einzelfälle, sondern leider immer noch über ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.

Zu dem Schluss kommt auch eine europaweite Studie der »Fondation Jean Jaurès«, welche Frauen aus Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien und Großbritannien zu ihren Erfahrungen mit Sexismus am Arbeitsplatz befragte. Das Ergebnis? Mehr als 50 Prozent der deutschen Frauen erlebten bereits anzügliche Blicke, Gesten oder Bemerkungen am Arbeitsplatz, bei 39 Prozent wurden die Kleidung oder der Körper kommentiert, 15 Prozent erhielten obszöne Vorschläge oder Nachrichten mit sexualisiertem Inhalt (»Sexting«).

Bekannte Beispiele aus der Politik sind »Der Herrenwitz«, mit dem sich der damalige FDP-Spitzenkandidat Rainer Brüderle 2013 im Gespräch mit der Stern-Journalistin Laura Himmelreich diskreditierte. Im Interview wanderte sein Blick auf ihr Dekolleté und er verstieg sich zu der anzüglichen Bemerkung: »Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.« Ein ältlicher Spitzenpolitiker, der einer jungen Journalistin an der Bar Anzüglichkeiten zuraunt – und damit Grenzen deutlich überschreitet.

Oder die Situation, als der frühere deutsche Botschafter Hans-Joachim Kiderlen auf einer öffentlichen Veranstaltung zur Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli meinte, er habe keine so junge Frau erwartet und dann sei sie auch noch so schön. Äußerungen, die im beruflichen Kontext übergriffig und unangemessen sind. Das Geschlecht oder die Attraktivität dürfen hier keine Rolle spielen. Das ist sexistisch und wirkt wie die Machtdemonstration eines älteren Herrn gegenüber einer jüngeren Frau. An diesen Beispielen zeigt sich deutlich, dass die Grenzen zwischen tatsächlichem und unbeabsichtigtem Sexismus fließend sind.

Wo fängt Sexismus an?

Sexismus ist allgegenwärtig – vor allem viele Frauen haben sich irgendwie daran gewöhnt, aufgrund ihres Geschlechts bewertet oder benachteiligt zu werden. Ich betone nochmals, dass auch Männer davon betroffen sein können. Doch, wie alle Studien und auch der Alltag belegen, sind Frauen immer noch im Fokus. Unternehmen sind verpflichtet, gegen sexuelle Belästigung vorzugehen, aber im Falle von Sexismus ist das im Einzelfall oft schwieriger. Weil die Situationen nicht eindeutig sind, stark anfällig für Interpretation, weil Sexismus auf vermeintlich harmlose Vorfälle heruntergeredet und verharmlost werden – oder schlicht einfach totgeschwiegen wird.

Oft zeigt sich Sexismus gerade im Job subtiler. Sätze vom Chef wie »Toll, dass Sie das als Frau geschafft haben!« können als Wohlwollen missverstanden werden, sind aber in ihrem Kern sexistisch. Auch Formulierungen wie »Setz dich zu uns, Hübsche.« haben am Arbeitsplatz nichts verloren. Aber wie steht es um den Kollegen, der die Kollegin beim Meeting bittet, Kaffee zu kochen? Ist das ok? Hätte er das einen anwesenden männlichen Kollegen auch gefragt? Oder ist die Bitte mit der Überzeugung verbunden, dass die Aufgabe – nämlich Kaffee zu kochen – besser von einer Frau übernommen werden kann? Oft fällt es schwer, das in der unmittelbaren Situation eindeutig zu erkennen. Betroffene schweigen dann lieber, obwohl sie ein Unbehagen verspüren – sich aber letztlich doch nicht sicher sind, was das Gegenüber wirklich beabsichtigt hat.

Konkret – 10 Beispiele von Alltagssexismus.

Hier ein paar Situationen, die ganz eindeutig sexistisch sind.

► Sexistische Witze, Sexting oder körperbezogene Aussagen

Nein, die unten aufgeführten Sätze sind nicht nur »dumme« Sprüche, die belächelt werden können. So zeigt sich knallharter Sexismus. Hierzu zählt auch »Sexting«, also das Versenden von sexualisierten Inhalten. Frauen werden schon von Kindesbeinen an auf ihren Körper verwiesen, deswegen kann dieser auch kommentiert oder durch verallgemeinernde Floskeln herabgesetzt werden (bis hin zur »Hate Speech«). Und nochmal: Unangemessene Sprüche sind keine verunglückten Komplimente!

»Hast du wohl deine Tage?«
»Mann ist die zickig – bestimmt total untervögelt.«
»Wir brauchen eine Frau im Team, die Kaffeemaschine muss mal wieder gereinigt werden.«
»Die hat aber zwei schlagende Argumente!«
»Was für ein Fahrgestell.«

► Sportliche Leistungen von Frauen herunterspielen

Sexismus ist im Sport präsent, besonders wenn die sportlichen Leistungen von Frauen kleingeredet werden. Mir fällt da immer Fußball dazu ein. Dabei ist gerade der Sport ein Bereich, in dem positive Vorbilder helfen können, schädlichen Geschlechterklischees entgegenzuwirken.

► Festlegung auf veraltete Geschlechterrollen

Beispiel Haushalt: Obwohl 67% der Frauen in Europa erwerbstätig sind, verrichten sie immer noch den weitaus größeren Anteil der Hausarbeit (Europe Union, 2017). Dies benachteiligt Frauen im Berufsleben und lässt ihnen weniger Zeit – für beispielsweise Engagement in der Politik oder einfach zum Entspannen.

Beispiel Spielsachen: Auch die Wahl der Spielzeuge für Kinder kann Geschlechterrollen entweder zementieren oder freie Entfaltung ermöglichen. Mädchen und Jungen mit vielfältigen Spielsachen spielen zu lassen, ist der beste Weg. (Twitter-Abo-Tipp: Almut Schnerring aka Rosa-Hellblau-Falle)

► Vermeintlich »wohlwollender« Sexismus

Findet sich häufig am Arbeitsplatz und trägt zur Aufrechterhaltung dominanter Beziehungen und Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern bei. Beispielsweise dann, wenn der Chef »aus Rücksicht auf die Familie« eine Mitarbeiterin von Geschäftsreisen ausschließt – genau diese aber das Mittel sind, um eine Beförderung zu erlangen.

► Zuweisung von Aufgaben außerhalb des Tätigkeitsfelds

Wenn die einzige weibliche Kollegin im Raum zum Kaffee holen geschickt wird, weil der Kunde zu Besuch ist – obwohl es genügend männliche Kollegen gegeben hätte, welche das genauso hätten erledigen können.

► Kommentare zur Kleidung

»Trage doch bitte das Kleid, wenn der Kunde kommt – das bringt deine Figur hervorragend zur Geltung.« – mit diesem Satz überschreitet ein Chef Grenzen. Im Job sind Kommentare zu Kleidung, Frisur oder Make-up fehl am Platz. Denn hier geht es um Kompetenz – und nicht um Attraktivität oder wie vorteilhaft die Jeans den Po betont.

► Hinterherpfeifen (»Catcalling«)

Im Jahr 2021 passiert es immer noch, dass Frauen auf offener Straße hinterhergepfiffen wird oder dass sie angehupt werden. Kurz: im öffentlichen Raum belästigt werden. Diese Reduktion auf den Körper, auf die man oft im Vorbeigehen gar nicht adäquat reagieren kann, ist kein Kompliment – sondern schlicht inakzeptabel.

► Upskirting

Upskirting nennt man das ungefragte, voyeuristische Fotografieren oder Filmen, das einer Frau unter den Rock oder in das Dekolleté blickt. Nach bisheriger Rechtslage war das keine Straftat. Das ändert sich jetzt. Eine entsprechende Gesetzesverschärfung ist verabschiedet, »Upskirting« und »Downblousing« sind eigenständige Straftatbestände. Gut so!

► »Zufällige« Berührungen

Menschen wahren instinktiv den sozialen Abstand. Leider bleibt es nicht aus, dass man ungefragt die Hand des flüchtigen Gesprächspartners auf der Schulter wiederfindet, über den Kopf gestrichen bekommt oder am Arme festgehalten wird. Hier ist die Grenze deutlich überschritten.

► Mansplaining

Diesem Thema hat Rebecca Solnit einen Essay mit dem Titel »Wenn Männer mir die Welt erklären.« gewidmet. Der Begriff »Mansplaining« meint Situationen, in denen Männer herablassend einen Sachverhalt erklären, weil sie glauben, die Gesprächspartnerin sei nicht im Bilde. Männer erläutern Frauen die Welt, auch wenn die Frau mehr darüber weiß. Das ist ein Auswuchs einer patriarchalischen Gesellschaft, welche seit Jahrhunderten Männlichkeit und Wissen miteinander koppelt.

Sexismus verschwindet nicht einfach, wir müssen etwas tun!

Was nun? Es gibt nur eine Antwort auf Sexismus: Offenlegen, enttarnen, sichtbar machen. Ein leuchtendes Beispiel für mich ist die Rede der Bürgermeisterin Daniela Harsch 2019 in der Tübinger Feuerwehrkneipe mit dem bezeichnenden Titel: »Mein Leben ist ein sexistischer Witz.« Darin bringt sie ihre Erfahrungen folgendermaßen auf den Punkt: »„Ah, die neue Bürgermeisterin. Da haben die Tübinger aber hübschere Aussichten als der Reutlinger Gemeinderat.“ Und ich dachte, ich wurde wegen meiner Qualifikation gewählt. Oder zumindest aufgrund des Parteibuchs. Aber als Deko auf der Verwaltungsbank eigne ich mich scheinbar auch ganz gut. Zwei Diplome, ein Doktor – alles egal. Hauptsache, die Aussichten stimmen.«

Sexismus im Alltag ist nicht zu dulden. Schluss mit dem Darüber-Hinweglächeln. Oder damit, sich das Unbehagen selbst auszureden. Grundsätzlich hilft es, dafür zu sorgen, dass versteckter Sexismus sichtbar wird, indem man ihn direkt anspricht – unabhängig davon, ob man selbst betroffen ist oder im Alltag eine entsprechende Beobachtung macht. Denn er ist unangemessen und diskriminierend und wir alle sollten dem entschieden entgegentreten: Was bei despektierlichen Witzen, dem Diktat der Schönheit, dem traditionellen Rollenbild und der Reduktion auf Attraktivität beginnt, setzt sich bei ungleicher Bezahlung und den relational wenigen Frauen in Führungspositionen fort. Ganz zu schweigen von dem höheren Risiko der Altersarmut für Frauen und strukturellen Benachteiligungen durch das Ehegattensplitting und das Lohnsteuerklassen-System.

Das alles verdeutlicht, dass der Kampf gegen Sexismus eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist – eine, die in skandinavischen Ländern schon besser gelöst wurde als bislang bei uns. Dort ist es sehr viel akzeptierter, dass Männer in Elternzeit gehen und Führungsrollen mit Frauen besetzt sind.

Der Weg raus ist – neben den notwendigen politischen und strukturellen Lösungen – immer wieder das Bewusstsein dafür zu schaffen, und nicht müde zu werden, auf sexistische Übergriffe im Alltag aufmerksam zu machen.

Hand auf’s Herz: Welche Erfahrungen hast du mit Alltagssexismus gemacht? Poste gern in den Kommentaren.

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Meine Liebe zu Mode und Kommunikation hat mich zu Ana Alcazar gebracht – als Texterin & Konzepterin in der klassischen Werbung groß geworden, schreibe ich seit fast 10 Jahren für unser Münchner Designerlabel. Im Redaktionsteam bin ich für alle Corporate-Themen zuständig, außerdem befasse ich mich hier mit aktuellen Trends & meinem Herzensthema Gleichberechtigung,

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